Donnerstag, 29. Juli 2010

„Kunst ist leben, leben ist Kunst!“


Wenn Manish Pathak die Bühne betritt, verwandelt sich der Inder innerhalb von Sekunden in Nataraj höchstpersönlich, dem König des Tanzes. Zu moderner indischer Musik durchlebt er Liebe, Hass, Angst, Freude und Trauer mit einer solchen Intensität, dass die Gefühle auf die Zuschauer überspringen. „New Indian Dance“ nennt sich diese Stilrichtung, die Manish, der sich auch der abstrakten Malerei verschrieben hat, in Berlin praktiziert.

„Meine Kunst ist nicht das Malen und Tanzen, meine Kunst ist leben“, sagt Manish. Wie wird man selbst zu einem Kunstwerk? „Ganz einfach: durch die Hilfe meiner beiden Gurus – Gott und meiner Großmutter“, erklärt Manish. „Und natürlich mit der Unterstützung von Ganesha“, betont er lächelnd und deutet dabei auf die kleine Kupferstatue mit dem elefantenköpfigen Gott im Raum.

Aufgewachsen ist Manish zunächst bei besagter Großmutter in Patna, der Hauptstadt des Bundesstaates Bihar, im Nordosten Indiens. Warum seine Eltern ihn zurück gelassen hatten, als sie nach Kalkutta zogen? „Ich weiß es nicht. Meine Mutter war Hausfrau, es gab also keinen Grund“, sagt er. „Aber ich bin ihr sehr dankbar für diese Entscheidung.“

Jenseits der Konventionen

Denn die ersten fünf Jahre seines Lebens verbrachte er unter der Obhut einer außergewöhnlichen Frau. Seine „Maa“, wie er die Großmutter liebevoll nannte, war eine liberal denkende, gläubige Brahmanin, die sich um Konventionen scherte.

„Maa fuhr mit dem Fahrrad, was sich für eine Frau ihres Ranges damals überhaupt nicht ziemte.“ Außerdem liebte sie es, den heiligen Fluss Ganges zu durchschwimmen - auch das eine eher überspannte Tätigkeit für eine Frau. Nach einer Begegnung mit der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori gründete die siebenfache Mutter kurzerhand eine Montessori-Schule im eigenen Haus.

Vor ihrer Ehe war sie Künstlerin und zusammen mit ihrer Schwester Schülerin von Rabindranath Tagore, dem bengalischen Multitalent und ersten asiatischen Nobelpreisträger. Als Gegner des klassischen Schulsystems hatte dieser für seine Kinder eine eigene Schule - Shanti-Niketan - gegründet, in der auch heute noch intuitiv und durch Vorbilder gelernt wird. Die besondere Begabung von Manishs Großmutter galt dem spirituellen Gesang.

„Die Schwester war weitaus talentierter als Maa“, erzählt Manish. Sie konnte nicht nur sehr gut singen, sondern auch tanzen und malen. Als sie später verheiratet war und Kinder hatte, stellte ihr Ehemann sie eines Tages vor eine folgenschwere Entscheidung: Familie oder Kunst. „Sie entschied sich sofort für die Kunst und verlies die Familie“, so Manish. Welch ein Skandal! Aber das ist eine andere Geschichte.

Eine idyllische Kindheit

„Maa war nicht so kunstbesessen“. Nach ihrer Heirat sang sie nur noch in der Familie und vererbte ihre künstlerischen Gene einiger ihrer Kindern – sowie Manish. „Musik war für mich von Anfang an wie die Luft zum Atmen“, erklärt er.

Er liebte die Zeit auf dem großen Anwesen seiner Großeltern. „Es gab einen wunderschönen Garten mit typisch indischen Blumen, aber auch eine Guava-Plantage, in der ich nach Lust und Laune mit meinen Freunden spielte“, erinnert er sich.

Nach fünf Jahren nahm dieses idyllische Leben ein abruptes Ende. Manishs Eltern holten ihren Sohn in die Hauptstadt Westbengalens – „für mich war das wie eine Verbannung aus dem Paradies“, beschreibt er die erste große Veränderung in seinem Leben.

In den darauf folgenden zwei Jahren kränkelte er immer wieder. „So musste Maa regelmäßig kommen und mich für eine Weile nach Patna holen“. Mit der Zeit gewöhnte er sich jedoch an das Leben in Kalkutta, seine Familie und Freunde, denen er immer gerne vortanzte. „Malen und Tanzen gehörten zu meinem Alltag“. Zum Ärger seines Vaters, einem Lehrer, schmückte er auch die Schulbücher und –hefte mit seinen Zeichnungen aus.

Dem Vater zuliebe

Sein Vater war es auch, der unbedingt wollte, dass der Sohn an der „University of Calcutta“ Wirtschaftswissenschaften studiert. Manish tat ihm diesen Gefallen, schrieb sich jedoch gleich nach dem Examen in ein Institut für Inneneinrichtung ein.

1995 versuchte er dann sein Glück im Ausland. „Mir fehlte das starke Gefühl von Liebe, das ich in meiner frühen Kindheit in Patna hatte“. Und so machte er sich zunächst in Singapur auf die Suche. Da er dort keine Arbeitserlaubnis bekommen konnte, war diese Reise von kurzer Dauer. Drei Monate später musste er wieder nach Indien zurück.

Dort warteten „die schlimmsten Jahre meines Lebens auf mich“, erinnert er sich. „Ich fühlte mich in Kalkutta so richtig niedergeschlagen. Jeder Tag war eine Qual für mich, und ich hatte das Gefühl, dass dieser Zustand nie enden würde“. Er fuhr nach Delhi und Bangalore, um Arbeit zu suchen, „aber irgendwie war mir klar, dass ich Indien verlassen musste.“

Nur wohin? Nach Australien, Russland oder Italien? „Meine Freunde machten sich schon lustig über mich ‚Du schaffst nie den Absprung’, meinten sie“, erinnert sich Manish.

Ein neues Leben

1998 bewarb er sich schließlich für eine Aufenthaltsgenehmigung in Kanada und „drei Jahre später war ich glücklicher Besitzer eines kanadischen Visums“. Für ihn war das der Beginn eines neuen Lebens.

In Kanada lebte er zunächst in Vancouver, dann in Toronto. Sein Geld verdiente er in einer großen Buchhandlung. „Eines Tages sah Linda, eine Kollegin und Freundin, meine Bilder und meinte: ‚Manish was machst Du hier? Du bist Künstler und kein Buchhändler, Du musst malen!“ Dies konnte er sich damals überhaupt nicht vorstellen. „Ich hatte nie daran gedacht, Künstler zu werden“.

Doch die Worte seiner Freundin ließen ihn nicht in Ruhe und so widmete er sich immer mehr der Malerei. Vielleicht lag es auch daran, dass sich er in dieser Zeit oft sehr einsam fühlte. „Kanada gefiel mir sehr gut, aber es war nicht mein Zuhause. Mir fehlte immer noch dieses vollkommene Gefühl der Liebe, die Geborgenheit - oder Schutzraum“, betont er. Diesen fand er mit seinen Bildern. Über 200 Werke schuf er innerhalb weniger Jahre.

Jedes Bild ist der Ausdruck seines momentanen Seelenzustandes. Sie entstehen alle nach demselben Ritual. „Wie ein Hindupriester lege ich das Material vor mir auf den Boden“, erklärt er. Während Hindupriester die Gaben ins Feuer werfen, bringt Manish sie „mal ganz ruhig, mal schreiend oder weinend“ auf Leinwand, Holz oder Papier. „Bis ein Bild fertig ist, kann es Stunden, Tage, aber auch Monate dauern - am Ende bin erschöpft und leer“, sagt Manish.

Indien nur zu Besuch

Es folgten Ausstellungen in Toronto und New York. Nach dem Tsunami 2004 organisierte er spontan eine Ausstellung und spendete den Erlös der verkauften Bilder. „Wenn in Indien etwas Schlimmes geschieht, dann geht es mir einfach schlecht“, erklärt er.

Ein Leben auf dem Subkontinent kann er sich jedoch nicht mehr vorstellen. „Kaum bin ich in Kalkutta, werde ich bereits nach wenigen Tagen nervös“, beschreibt er seine Stimmung. Die Stadt beschreibt er als „zu laut und zu intensiv, ich halte es da nie lange aus.“

Dennoch ist er durch und durch Inder. „Ich träume häufig auf Hindi, kann nur indisch kochen und empfinde die indische Musik als die intensivste Musik der Welt“, sagt er. Natürlich liebt er auch indische Literatur, vor allem die Romane von Salman Rushdie. „Seine Sprache ist so pulsierend, dynamisch und bunt - ganz wie das Leben auf den Straßen Indiens“.

2005 besuchte er zum ersten Mal wieder Kalkutta und begegnete dabei seiner großen Liebe, die aus Potsdam stammte. Und so begann ein neues Kapitel in Manishs Leben, „obwohl diese Liebe nicht erwidert wurde“. Er fing an, Deutsch zu lernen und landete zwei Jahre später in der Hauptstadt Brandenburgs. Da seine Deutschkenntnisse noch nicht perfekt waren, führte ihn sein Weg sofort zur Tanzschule „fabrik“. „Ich habe einfach angeklopft, vorgetanzt – und man fand es gut.“

Zu Hause angekommen

Inzwischen lebt er in Berlin, und fühlt sich endlich zu Hause angekommen. „Berlin war die 12. Station auf meiner Suche nach Liebe“, betont er. Kaum war er am Bahnhof Zoo angekommen, „überkam mich plötzlich wieder dieses intensive, schöne Gefühl, das mir seit meiner Kindheit verloren gegangen war“. Die Berliner verstanden seine Fragen auf Anhieb und halfen ihm, die gewünschte Adresse zu finden. „Vom ersten Augenblick an fand ich mich in der Stadt zurecht“.

Der Tanz als aktive Kunstform passt somit genau zu seiner derzeitigen Lebensphase. „Einsamkeit kann ich am besten im Malen ausdrücken und Liebe im Tanzen.“ Über die Deutschen von Anfang an nur positiv überrascht. „Meine Freunde hatten mich gewarnt, aber ich treffe immer nur auf sehr nette und offene Menschen“, betont er.

Ihm gefällt vor allem die direkte Art, mit der ihm die Berliner begegnen. Auch seine Erlebnisse auf der Ausländerbehörde erinnern eher an nette Gespräche mit einer guten Bekannten als an einen Behördentermin.

„Meine Sachbearbeiterin Frau Ditting zeigt großes Interesse an meinem Leben hier. Sie will immer wissen, wie es mit dem Tanzen läuft, lobt meine Fortschritte in Deutsch und wünscht mir beim Abschied jedes Mal viel Glück“, sagt er mit einem Lächeln in den Augen. Solche Begegnungen sind ihm sehr wichtig, denn „ich brauche Menschen um mich herum“.

Licht und Schatten

Aber wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten – und so stößt Manish nicht nur auf Begeisterung. „Es gibt natürlich Menschen, die mir ganz bewusst aus dem Weg gehen – vielleicht beängstigt sie meine intensive Ausstrahlung?“. Diese extremen Reaktionen auf ihn kann man am besten bei seiner Interpretation des Beedi-Lieds aus einem Bollywoodfilm erleben.

Die Mischung aus (angedeutetem) Striptease und klassischem indischen Tanz hat es seinen Fans angetan. „Nach jeder Aufführung wünschen sie sich diesen Tanz als Zugabe“, so Manish. Viele indische Zuschauer – vor allem ältere Menschen – reagieren dagegen in der Regel entsetzt.

Obwohl es an Anfragen nicht mangelt, tritt Manish relativ selten auf. „Wenn ich tanze, dann vergesse ich das Publikum und alles andere um mich herum“, erklärt er. „Ich sehe nur noch helles Licht und verwandle mich in den Tanz.“ Nach einem solch intensiven Erlebnis fühle er sich nicht nur körperlich, „sondern auch seelisch vollkommen erschöpft“.

Da kostet ihn das Unterrichten deutlich weniger Energie. „Aber auch das ist Kunst“, betont der 40-Jährige. „Wenn meine Schüler müde und kaputt von der Arbeit im Tanzstudio erscheinen und zwei Stunden später mit leuchtenden Augen nach Hause gehen, fühle ich mich ganz erfüllt“.

Kontakt:
Manish Pathak
www.manish1313.blogspot.com

© Marlies Moser

Mittwoch, 28. Juli 2010

Mystic Travel – Eine Reise nach Indien und zu mir selbst


Es ist neun Uhr morgens. Ich liege gerade im schönsten Raum unseres „guest house“ und komme in den Genuss einer Reikibehandlung. Aus den Händen von Simone, meiner Betreuerin, die glücklicherweise auch Reikimeisterin ist, strömt eine angenehme Kühle auf meine Augen. Draußen sitzen einige Teilnehmer gemütlich unter Kokospalmen am großen Holztisch beim Frühstück. Oben auf der Dachterrasse folgt ein anderer Teil der Gruppe den Anweisungen von Prasad, unserem Yogalehrer, bei dem jede Übung so einfach aussieht. Wir sind in Kerala, dem zweitkleinsten Bundesstaat Indiens, im äußersten Südwesten des Subkontinents. Direkt vor uns, unterhalb der rotbraunen Steilküste, liegt ein breiter Sandstrand und das leuchtend blaue Arabische Meer.

Wir sind eine bunt zusammen gewürfelte Gruppe und kommen aus ganz Europa. Die Motive für die Indienreise sind so unterschiedlich wie die Teilnehmer selbst. Einige der 30- bis 66-Jährigen wollen einen reinen Wellnessurlaub genießen mit Yoga, Meditationen und den täglichen ayurvedischen Behandlungen. Andere wiederum möchten einige Ashrams besuchen, die paradiesischen Backwaters erleben oder zum Periyar-Nationalpark fahren und dort wilde Elefanten, Affen und – mit viel Glück – Tiger beobachten. Für mich wird eine viertägige Reise in das 800 Kilometer entfernte Bangalore zum Besuch einer Palmblattbibliothek der Höhepunkt meines Indien-Aufenthalts sein.

Der zentrale Ort unserer Reise ist jedoch Varkala, ein hinduistischer Pilgerort, knapp 50 Kilometer von der Hauptstadt Trivandrum entfernt. Varkala ist vor etwa 15 Jahren von Individualtouristen entdeckt worden. Wir sind in drei nebeneinander liegenden Häusern untergebracht, jedes ein kleines Juwel für sich. Ich fühle mich hier sofort wohl. Wenn ich mich mit den anderen Teilnehmern austauschen will, gehe ich zum Haupthaus, wo immer jemand in der Hängematte liegt, Obst isst oder auf der Bank vor dem Haus sitzt und plaudert. Zum Nordkliff, wo sich einige Ressort, Läden und Open-Air Restaurants wie die Perlen einer Kette aneinander reihen, sind es zu Fuß nur gut 15 Minuten.

Entspannen mit Ayurveda und Yoga

In den ersten Tagen staht vor allem Ayurveda – das Wissen vom langen Leben – im Vordergrund. Doktor Manoj, unser Arzt, nimmt sich eine halbe Stunde Zeit für mich, schaut mir tief in die Augen, misst den Puls und stellt Fragen über meine Gesundheit und mein Leben zu Hause. Denn im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen die Ursachen und nicht die Symptome einer Beschwerde. Von seinen regelmäßigen Deutschland-Aufenthalten weiß er nur zu gut, dass die Krankheiten der Touristen oft psychosomatisch bedingt sind. Am zweiten Tag beginnen die täglichen Kopf-, Gesichts- und Ganzkörpermassagen, die mir zusätzlichen Anwendungen wie Stirnguss, Fußmassage oder Gesichtspackungen über zwei Stunden dauern können. Ich bin begeistert. Das Kneten, Walken und Drücken tut so gut, beruhigt. Nach der Massage fühle ich mich völlig entspannt und wie neu geboren. Meine Stimmung verbessert sich von der ersten Behandlung an.

Der Tagesrhythmus verläuft in Varkala ganz anders als zu Hause. Um 6.30 Uhr, zum Sonnenaufgang, beginne ich mit Yoga. Danach gibt es Frühstück und das Tagesprogramm wird vorgestellt: mal ist es ein kleiner Ausflug, mal „nur“ ein paar Meditationen oder Reiki. Für mich fällt heute das Frühstück aus, weil ich gleich eine Anwendung habe. Nach der Massage esse ich etwas und lasse für den Rest des Tages einfach nur die Seele baumeln. Ich relaxe auf der Terrasse, im Garten und am Strand, lausche dem Krächzen der Vögel und bewundere den eleganten Flugstil der Seeadler. Mein derzeit schwieriges Leben in Deutschland ist so weit weg, negative Gedanken interessieren mich nicht. Ich konzentriere mich nur auf den Augenblick und genieße diese neue Leichtigkeit. Abends habe ich das Gefühl, dass ich einen erlebnisreichen Tag hinter mir habe, obwohl ich gar nicht viel getan hatte. Das Entdecken und Genießen der Langsamkeit macht mich rundum zufrieden.

Auch das Essen ist ein neues Erlebnis. Irgendwie schmeckt hier alles viel intensiver als in Deutschland. Vor allem die heimischen Gewürze – Kardamon, Kreuzkümmel, Gelbwurz und Chili – werden von meinen Geschmacksknospen deutlicher wahrgenommen. Das Nationalgericht im Süden Indiens heißt Thali. Es ist ein Sortiment verschiedener Gemüsegerichte mit Pasten und Saucen, das ganz traditionell auf einem Bananenblatt im Halbkreis um eine Portion Reis angerichtet wird. Ich lerne mit den Fingern zu essen und stelle fest, dass dies gar nicht so schwer ist – und vor allem, dass es viel sinnlicher ist, das Essen ohne Metallbesteck mit dem Mund aufzunehmen.

Faszination Backwaters

Das idyllische Leben in Varkala wird ab und zu durch ein- oder mehrtägige Ausflüge unterbrochen. Am Ende der ersten Woche machen wir uns zu den berühmten Backwaters auf, einem 1500 Kilometer langen, verzweigten Netz aus Lagunen, Seen und Reisfeldern. Neben den für Kerala typischen Kokospalmen säumen auch Bananen und Gewürzgärten die Wasserstraßen. Von unserem Hausboot aus beobachte ich Kinder in Schuluniform auf dem Heimweg, Frauen, die ihre Wäsche direkt am Kanal waschen und Bauern, die in kleinen Kanus an uns vorbei fahren. Alles ist so exotisch, aber gleichzeitig erscheinen mir diese Bilder vertraut. Ein alter Mann taucht am Ufer auf, bleibt stehen und schaut mir ruhig und freundlich in die Augen. Sein melancholischer Blick erzählt in wenigen Minuten alles: Licht und Schatten, Freude und Trauer, Leben und Tod. Ich bekomme eine Gänsehaut, kann mich seinem Blick jedoch nicht entziehen. Schließlich winkt er mir kurz zu und geht weiter.

Audienz bei Amma

Bei den Backwaters liegt auch der Ashram von Amma, eine der wenigen Frauen unter den Gurus in Indien. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, so viele Menschen wie möglich zu umarmen. Da sie gerade in ihrem Ashram weilt, fahren wir für einen Tag hin. Wir werden in die Darshan-Halle geführt, wo sie auf einer Bühne sitzt. Rechts und links vor ihre stehen lange Menschenschlangen. Amma umarmt einen nach dem anderen, sagt jedem etwas ins Ohr und strahlt ihre Besucher an. Ich sitze eine ganze Weile in der Halle und beobachte die kurzen Begegnungen, die sie mit den Besuchern hat. Endlich darf ich mich in die Reihe der Frauen eingliedern. Wenige Meter vor ihr fühle ich mich plötzlich sehr ergriffen und kämpfe mit den Tränen. Dieses Gefühl verschwindet wieder, je näher ich an sie heran komme. Ich werde gefragt, welche Sprache ich spreche, bekomme Anweisungen, wie ich mich hinknien soll, und bin nur noch einen Schritt von Amma entfernt.

Meine Ergriffenheit verwandelt sich in ein starkes Gefühl der Fröhlichkeit, und plötzlich werde ich an Ammas Brust gedrückt. Sie flüstert mir etwas ins Ohr, das ich nicht verstehe, und drückt mich noch einmal ganz kurz. Anschließend sagt mir eine Jüngerin, Amma lade mich dazu ein, einige Minuten ganz in ihrer Nähe zu sitzen. So kann ich noch einmal kurz diese besondere Atmosphäre einatmen und mir die vielen glücklichen Gesichter um Amma herum einprägen.

Palmblattbibliothek: Blick in die Zukunft

In der letzen Woche fahre ich mit sechs weiteren Teilnehmern nach Bangalore zur Palmblattbibliothek. Von diesem Besuch erhoffe ich mir wichtige Hinweise für meine nähere Zukunft, da ich mich seit längerem in einer Blockade befinde. Bereits auf der langen Zugfahrt weicht die bisher erlangte Ruhe einer Nervosität und großen Angst. Was mache ich, wenn ich erfahre, dass mein Leben weiterhin sehr schwierig sein wird? Wird überhaupt ein Palmblatt für mich da sein? Der Legende nach soll es insgesamt nur rund 1,3 Millionen Palmblätter mit Lebensläufen geben.

Am Bahnhof von Bangalore werden wir von Matthias und Rahima, unseren Betreuern für die Hightech-Metropole, abgeholt und ins Hotel gebracht. Die ersten vier von uns haben gleich einen Termin. Im Wartezimmer der Bibliothek angekommen, fühle ich mich wie vor einer mündlichen Prüfung. Ich vertreibe mir die Zeit mit dem Schreiben von Ansichtskarten und mache ein bisschen Small Talk mit den anderen, die ebenfalls nervös sind. Endlich bin ich an der Reihe.

Nadi Gruha, der Palmblattleser, gibt mir sofort das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Meine Angst ist weg. Er fragt ein paar persönliche Daten ab, verlässt den Raum und kommt bald darauf mit etwa 30 Zentimeter langen und fünf Zentimeter breiten Palmblättern zurück, die wie Holztäfelchen aussehen und an den Ecken mit einer Schnur zusammengebunden sind. Nadi Gruha zieht die Schnur raus, fragt nach weiteren Daten und findet sehr schnell mein persönliches Palmblatt. Er kommt sofort auf den Grund meines Besuches zu sprechen und erzählt mir, was sich in den nächsten Jahren verändern wird und wie ich mein Schicksal positiv mitgestalten kann. Obwohl mein Englisch ganz gut ist, bin ich froh, dass ich Matthias als Dolmetscher neben mir sitzen habe. Nadi Gruha erklärt mir, warum mein Leben so ist, wie es ist, und berichtet mir von den Stärken und Schwächen in meinen früheren Leben. Er schildert mir Situationen meines bisherigen Lebens und erinnert mich an bestimmte Gefühle, die ich als Kind hatte. Ich verliere jegliches Zeitgefühl. Zum Schluss darf ich noch fragen stellen. Die Antworten dazu sind beruhigend.

Bald geht es wieder zurück nach Varkala, das nach dem lauten und staubigen Bangalore eine richtige Oase ist. Ich habe noch einen Tag Zeit, diesen besonderen Fleck Erde zu genießen, den ich ohne Mystic Travel wohl nie entdeckt hätte. Das Team unter der Leitung von Tim H. Pfordte hat mir das Leben hier so angenehm wie nur möglich gemacht, was für einen Indien-Neuling wie mich sehr wichtig war. Von den vier fürsorglichen Betreuern habe ich gelernt, wie ich mich in der Stadt, beim Einkaufen oder im Gespräch mit Rikscha-Fahrern richtig verhalte. Ihre persönlichen Geschichten, die sie mit Indien verbinden, haben mich berührt. In diesen drei Wochen ist mir klar geworden, dass auch ich noch einige Male in den Subkontinent reisen werde, um weiter zu mir selbst zu finden.

© Marlies Moser

Freitag, 23. Juli 2010

Bezauberndes Indien - Auf den Spuren der Maharadschas



Die schönste Liebeserklärung der Welt hat nicht nur Prominente in ihren Bann gezogen. Bis zu sieben Millionen Menschen kommen jährlich zum Taj Mahal nach Agra, einer Stadt im Norden Indiens. Je nach Sonnenstand wirkt das bekannteste Bauwerk des Landes anders. Die beste Zeit ist frühmorgens zum Sonnenaufgang. Dann verleiht das Licht dem marmorweißen Grabmal einen goldenen Glanz.

Der Bau des Mausoleums mit seinen blumenförmigen Einlegearbeiten aus Halbedelsteinen wie Jade, Jaspis, Karneol und Lapislazuli dauerte 22 Jahre. Der muslimische Herrscher Shah Jahans ließ es zwischen 1632 und 1650 an der Stelle errichten, wo er seine Lieblingsfrau - Mumtaz-i-Mahal – zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war 1630 bei der Geburt des 14. Kindes gestorben.

Das Taj Mahal besteht nicht nur aus dem Grabmal. Um den 56 Meter hohen wie breiten Grabbau sind vier Minarette platziert, die leicht nach außen neigen. Rechts und links der weißen Terrasse stehen zwei Gebäude aus gebrannten Ziegelsteinen. Das eine davon war eine Moschee, die den einzigartigen Ort heilig machen sollte, wie Fremdenführer Adi Rastogi in sehr gutem Deutsch berichtet. Der Garten vor dem Mausoleum bekam seine heutige Form von den Briten Anfang des 19. Jahrhunderts.

Vorher war das Gelände mit Mango-, Bananen- und Granatäpfelbäumen bepflanzt, denn das Taj Mahal sollte nicht nur ein Symbol der Liebe, sondern gleichzeitig das Paradies sein. Wer sich an dem Denkmal nicht satt sehen kann, sollte während seines Aufenthalts in Agra im Luxushotel Amarvilas wohnen. Dort hat man von jedem Schlafzimmer aus einen freien Blick auf das Grabmal.

Das Taj Mahal befindet sich im so genannten Goldenen Dreieck, einer beliebten Reiseroute für frisch Vermählte. Diese führt auch nach Jaipur, einer 1,8 Millionen-Einwohner-Stadt inmitten Rajasthans. Bis zur Unabhängigkeit Indiens 1947 lebten im „Land der Könige“ bis zu 23 Fürstentümer. Zurückgeblieben sind unzählige Paläste und Gärten.

Diese sollte man unbedingt mit einem sachkundigen Fremdenführer besichtigen. Ihre Geschichten vom prunkvollen Leben am Hofe lassen die oft leeren Gebäude in ihrem alten Glanz erscheinen. Heute spielen die Maharadschas keine politische Rolle mehr. Viele von ihnen sind jedoch gesellschaftlich und wirtschaftlich sehr aktiv.

Jaipur, die Stadt mit den rosarot gestrichenen Häusern, wurde vom Maharadscha Jai Sing II 1727 gegründet. Er wollte eine der großartigsten Städte seiner Zeit bauen. Beim Anblick der Altstadt mit dem großzügigen Stadtpalast, dem legendären „Palast der Winde“ und dem einzigartigen Observatorium dürfte ihm dies bestens gelungen sein.

Ein weiterer touristischer Höhepunkt in Rajasthan ist der Nationalpark Ranthambhor, der von Jaipur aus am besten mit dem Zug (drei Stunden Fahrzeit) zu erreichen ist. Der Park zählt seit etwas mehr als 30 Jahren zum „Projekt Tiger“, das die vom Aussterben bedrohten bengalischen Tiger schützen soll. Zuvor diente er als Jagdrevier für den Maharadscha von Jaipur.

Auf einer Jeepsafari hat man vielleicht das Glück, einen der 33 dort lebenden Tiger zu sehen. Aber auch das Beobachten der vielen anderen Tierarten wie Antilopen, Bären, Krokodile, Adler, Geier und – je nach Jahreszeit – Pelikane sind schon ein Erlebnis. Das fast 1000 Jahre alte Ranthambhor Fort, das auf einem Hügel gelegen ist, gibt dem Nationalpark eine einzigartige Note.

Außergewöhnlich ist auch die Stadt Udaipur, eine idyllische, mittelalterliche 500 000-Einwohner-Stadt mit dem künstlich angelegten Pichola-See, den Lustschlössern und dem alten hinduistischen Tempel Jagdish. Das Herrscherhaus von Mewar war das bedeutendste Fürstenhaus Rajasthans und gilt heute immer noch als sehr konservativ.

Wie in Jaipur lebt der Nachfahre in einem Flügel des immensen Stadtpalastes. Für Asiaten ist Udaipur das Venedig Indiens, denn die einzigartige Kulisse mit dem See, dem Stadtpalast und dem Aravalli-Gebirge im Hintergrund macht den Ort zu einem der romantischsten Plätzen dieser Welt.

Indien hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Industriegüter, Pharmaprodukte und immer stärker die Software- und Telekommunikationsbranche bescheren dem Land alljährlich ein deutliches Wirtschaftswachstum. Doch die meisten seiner 1,1 Milliarden Einwohner bleiben bei diesem Aufschwung außen vor. Zu groß ist der Unterschied zwischen arm und reich. Armut herrscht vor allem in den Dörfern, deren Bewohner von der Landwirtschaft leben müssen.

Inder sehen die extremen Gegensätze ihres Landes relativ gelassen. „Ein altes indischen Sprichwort sagt: Derjenige ist reich, der nachts gut schlafen kann“, erklärt Mohit Nirula, ein erfolgreicher Hotelmanager, und fügt hinzu: „Viele Menschen in den Dörfern können besser schlafen als ich“.



© Marlies Moser

Montag, 19. Juli 2010

Piazza Italiana – eine italienische Enklave nördlich von Berlin



Eine Piazza mitten auf dem Todesstreifen? An so etwas hatten die DDR-Grenzpolizisten sicherlich nicht gedacht, als sie seinerzeit im Norden Berlins patrouillierten. Aber in der Hauptstadt ist bekanntlich alles möglich: Seit über 14 Jahren gibt es nun schon das Restaurant „Piazza Italiana“, das seinen Gästen neben gutem Essen reichlich italienisches Lebensgefühl bietet.

Der Ort des Geschehens ist ein auffälliges, aber nicht aufdringliches Gebäude in Glienicke/Nordbahn, einer überschaubaren Gemeinde am nördlichen Stadtrand von Berlin-Reinickendorf. Das Haus, das Antonio Modesti 1995 und 96 direkt an der Oranienburger Chaussee bauen ließ, erinnert mit seinen sechs Türmen entfernt an den Zuckerbäckerstil.

Draußen gibt es großzügige Parkplätze und drinnen wird der Besucher zunächst von einer reichlich bestückten Weinhandlung sowie einem Feinkostladen überrascht. Bereits hier laden ein paar Tische zum Verweilen ein. Dreht man wie auf einer Piazza seine Runde, führt der Weg in einen weiteren Raum mit rustikalen Holztischen sowie in den größten Restaurantbereich. Hier steht der Steinofen, in dem die berühmten Pizzen gebacken werden.

Wie auf einer Piazza geht jeder Besucher seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen nach. Die einen wollen nur schnell einen Cappuccino trinken, andere brauchen italienische Wurst, Käse und Brot für Zuhause. Beim Stöbern entdecken sie zwischen Pasta und Marmelade einen Reiseführer über die Toskana, eine knallrote Küchenwaage oder eine schicke Kochschürze – nette Geschenke für Freunde.

Geschäftsführer Modesti stellt uns zunächst die gute Seele der Piazza vor, Signora Rosaria Fragnielli. Sie ist die Herrscherin über die Antipasti des Hauses. In der Vitrine steht ein breites Angebot an gegrilltem Gemüse: Chicorée, Zwiebeln, Auberginen und Zucchini. Auch marinierte Paprikaschoten, gefüllte Champignons, ein Salat mit Meeresfrüchten, kleine leckere Fleischbällchen sowie eine Frittata sind mit von der Partie. „Die Rezepte stammen von mir“, erklärt Rosaria. „Ich mache alles so, wie ich es zu Hause in Apulien gelernt habe.“

Da sie abwechselnd in ihrem Dorf Martina Franca und der Piazza Italiana lebt, hat sie ihre Kollegen bei der Zubereitung der Vorspeisen genauestens instruiert. So fällt die physische Abwesenheit von Signora Rosaria den Gästen zumindest beim Essen nicht auf. „Das Wichtigste ist, dass man das was man tut mit Liebe zum Produkt tut“, betont sie.

Wir wollen die viel gerühmte Pizza testen und bestellen eine Focaccia mit Gorgonzola und Tiroler Alpenspeck. Und wirklich: Die Pizza aus dem Steinofen schmeckt exzellent. Der Boden ist dünn, der Teig schön knusprig und der Belag ist nicht zu schwer, so dass man die Stücke leicht mit den Händen essen kann. „Jeder unserer beiden Pizzabäcker macht seinen eigenen Teig wenn er mit der Schicht beginnt“, erklärt uns Modesti. Dies sei das A und O einer guten Pizza.

Wir fragen Peppino nach dem Geheimnis seines Pizzateigs. „Die Zutaten sind bei jedem Pizzabäcker die gleichen: Mehl, Hefe, Salz, Wasser und ein wenig Olivenöl“, sagt er. „Der Rest kommt von mir, aus meinem Herzen“, betont der Römer mit der entsprechenden Mimik und Gestik, so dass wir uns am liebsten noch eine Pizza bestellen würden. Aber in der Küche wird gerade ein anderes Gericht für uns zubereitet.

Wie das Angebot auf einem Marktplatz lebt auch die Piazza Italiana von der jeweiligen Jahreszeit und so gibt es saisongerecht frische weiße Trüffel aus Alba. Wir bekommen sie ganz stilecht mit Tagliolini Piemontesi serviert, schmalen und dünnen Eierbandnudeln aus Hartweizengries.

„Trüffel gibt es bei uns nur in der Saison und nur direkt aus dem Trüffelparadies Alba“, erklärt Modesti. Und damit ist er auch schon bei der Beschreibung seiner Küche: „Bei uns werden aus hochwertigen Produkten einfache Gerichte gekocht.“ Zur Gewährleistung der guten Qualität zieht er beim Kauf der Produkte kleine Hersteller vor. Beim Fleisch liegt die Präferenz bei Bioprodukten von einer kleinen Genossenschaft aus dem Darß an der Ostsee, was jedoch leider nicht immer möglich sei. Schließlich sei das Angebot gemäß den Prinzipien der ökologischen Landwirtschaft begrenzt.

Dass Qualität für Modesti oberste Priorität hat, ist er seiner Herkunft schuldig. „Bei mir zu Hause wurde die Wurst immer selbst gemacht, das Fleisch stammte von unseren Tieren“, erklärt der Sohn eines Bauern aus den Abruzzen. So scheut er auch heute keinen Aufwand, um seinen Gästen immer wieder einen besonderen Leckerbissen zu organisieren. „Manchmal bekomme ich vom Metzger meines Vertrauens aus Greve bei Chianti Fleisch vom Chianina-Rind“, sagt er. „Dann gibt es bei uns die originale Bistecca Fiorentina. Mit einem Glas kräftigen Rotwein ist dies ein besonderer Genuss“, so Modesti weiter.

Solche Gerichte stehen in der Regel nicht auf der Speisekarte. „Unsere Stammgäste wissen das schon und fragen immer gleich, was wir ihnen empfehlen können“, sagt Kellner Massimo aus Neapel. Die Fischgerichte seien ebenfalls nur mündlich wie auf einer Piazza zu erfahren, da das frische Angebot täglich variiere. Wir probieren ein Fleischgericht – Osso Buco mit Risotto al Zafferano. Die Kalbshaxe ist sehr zart und der Risotto genau so, wie er sein muss: schön cremig, aber dennoch al dente.

Das reichhaltige Weinsortiment ist ebenfalls nur zu einem Bruchteil aus der Karte zu erfahren. „Wir haben rund 1500 verschiedene Weine“, betont der Hausherr und lädt uns zu einem kurzen Besuch des Weinkellers ein. Die Gewächse kommen hauptsächlich aus der Toskana und dem Piemont, aber auch eine kleine Auswahl an französischen Weinen ist zu sehen. Der teuerste Tropfen ist ein Brunello di Montalcino aus dem Jahr 1955 für stolze 3500 Euro. Darauf folgt ein Château Pétrus aus dem Jahr 2000, der 2500 Euro kostet. Wer nicht so viel Geld für einen Wein ausgeben möchte, findet schon ab 20,00 Euro etwas Gutes. „Natürlich sind die Weine auch im Glas zu bekommen“, sagt Modesti.

Für ihn ist die Piazza Italiana in erster Linie ein Familienrestaurant. „Sehr beliebt sind unsere Pizza-Backkurse für die Kleinen“, erzählt er. Auch wenn er nichts damit verdienen kann, ist ihm dies sehr wichtig. Schließlich seien die Kinder die Kunden von Morgen, „und man kann nie früh genug damit anfangen, sie für gute Produkte zu sensibilisieren“, erklärt der dreifache Familienvater. Aber auch für die Großen ist für Abwechslung gesorgt. So findet jeden Sommer ein kleines Fest statt, zu dem die Produzenten höchstpersönlich aus Italien anreisen und ihre Spezialitäten zur Verkostung anbieten.

Piazza Italiana
Oranienburger Chaussee 2
16548 Glienicke/Nordbahn
Tel.: 030/404 46 13
www.piazza-italiana.net
© Marlies Moser

Sonntag, 18. Juli 2010

Villa Marie in Dresden - eine schlichte und elegante Interpretation der italienischen Küche


Dresdens Verbindungen zu Italien waren schon immer etwas Besonderes. „Elbflorenz“ oder „deutsches Florenz“ – so abgedroschen die Bezeichnungen auch klingen, sie machen auf das Wesentliche aufmerksam: Das Italienische an der Stadt hatte schon immer etwas Eigenständiges - wie auch im Falle der „Villa Marie“, einer alten Villa im toskanischen Stil.

Es ist ein angenehm warmer Frühlingstag. Drinnen im zeitlos schlicht eingerichteten Restaurant tafelt vergnügt eine kleine Hochzeitsgesellschaft. Draußen im Garten erholen sich Gäste bei einem Teller Tagliatelle von ihrer Radtour entlang der Elbe. Andere genießen auf der Veranda bei Vitello tonnato den Blick auf das „Blaue Wunder“, eine stählern-filigrane Brücke aus dem Jahr 1893. Oder sie schauen ganz entspannt den Elbdampfern hinterher.

Wir wollen die Küche von Klaus-Karsten Heidsiek und seinem Team kennen lernen. Heidsiek hat zehn Jahre lang in Italien gekocht, davon acht Jahre an der Seite von Gualtiero Marchesi in Mailand.

Bereits beim ersten Gang, einem Salat von Polpo mit grünem Spargel und Kirschtomaten, ist seine Interpretation der italienischen Küche zu erkennen: keine extravaganten Experimente, sondern eine saisonale Küche, die sich durch eine elegante Einfachheit auszeichnet. Das Fleisch des Kraken ist schön schnittfest. Es ergänzt harmonisch die aromatischen Kirschtomaten und den würzigen Spargel. „Die Grundprodukte sind sehr wichtig. Wenn sie gut sind, müssen sie bei der Zubereitung nicht mehr stark verändert werden“, erklärt Heidsiek.

An der italienischen Küche schätzt er vor allem das Kochen mit wenigen Komponenten. „Ein Salat ist in Italien keine Beilage, sondern ein einzelner Gang, der mit seinen speziellen Geschmackskomponenten für sich steht“, so der 50-jährige Küchenchef und Pächter. Beim zweiten Gang, Ravioli mit Ziegenkäse, gegrillter Zucchini und Pesto, steht zunächst das Ziegenkäsearoma im Mittelpunkt. Die Füllung ist schön cremig, schmeckt kräftig, übertönt jedoch nicht den Geschmack der Ravioli. Die gegrillten Zucchinischeiben haben durch den Flüssigkeitsentzug einen stärkeren Eigengeschmack bekommen, halten sich zusammen mit dem Pesto dennoch dezent im Hintergrund.

Ganz anders der Fischgang, gebratener Lachs auf Blattspinat. Hier konbiniert die Küche einen Klassiker mit einer hellen Sauce aus Zitrusfrüchten, Basilikum und Butter. Mit dem leicht bitteren, fruchtig-säuerlichen Geschmack von rosa Grapefruit, Orange, Zitrone und Limette wird das Gericht raffiniert aufgepeppt.

Die nächste Steigerung lässt nicht auf sich warten: Spanferkelkottelets mit Feigensenfsauce und gebratenem Gemüse. Bei diesem Gang gilt die Aufmerksamkeit dem hellen, saftigen und zarten Fleisch, das zuvor zusammen mit einem Zweig Rosmarin und einer Knoblauchzehe in Olivenöl gebraten wurde. Die Feigensenfsauce verleiht dem Fleisch eine leicht süßliche Schärfe. „Einen Teil unseres Fleisches beziehen wir von einem Biobauer aus dem nahe gelegenen Erzgebirge“, sagt Restaurantleiter Sebastian Rölke. Dieser zerlege das Tier auch nach besonderen Wünschen des Kunden. So kommt es, dass die Villa Marie ihren Gästen ab und zu die berühmte Bistecca fiorentina „in stark limitierter Auflage“ anbieten kann.

„Für eine solche Delikatesse ist unsere Kundschaft bereit, ein paar Euro mehr zu zahlen“, so Rölke weiter. Wenn möglich, bezieht Heidsiek seine Ware gern von Produzenten aus der Region. Auch aus Italien kommen wöchentlich frische Lieferungen. Aber zurück zu unserem Menü, denn das Dessert macht seiner Rolle als krönender Abschluss alle Ehre: Holundergelee mit aufgeschlagener Mascarpone-Limettencreme.

Der angenehm blumig-mild schmeckende Holundergelee wird in Verbindung mit der gehaltvollen und süß-säuerlich zubereiteten Mascarponecreme besonders gut hervorgehoben. Alles in allem ein perfekt abgestimmtes Menü. Wohl gerade wegen seiner Schlichtheit werden uns die Besonderheiten der einzelnen Gänge noch lange in Erinnerung bleiben.

Die Weinkarte ist reichhaltig. Über 100 Flaschenweine stehen zur Auswahl, der Großteil davon kommt aus dem Piemont und der Toskana. Die Gewächse werden über die „Villetta“ eingekauft, dem zweiten Restaurant Heidsieks und dem zentralen Lager. Im gemütlichen Lokal im Dresdner Stadtteil Striesen kann man die Weine zum Mitnehmen kaufen oder zu einem Korkgeld von 10,00 Euro pro Flasche direkt vor Ort trinken. Spätestens hier ist die Arbeitsphilosophie Heidsieks bestens zu erkennen. „Ich lebe diese Küche, ich lebe diese Gastronomie, und ich möchte mich in meinen Lokalen wohl fühlen“, erklärt er.

Seine Rückkehr aus Italien vor 18 Jahren erfolgte nicht ganz freiwillig. „Ich wollte bleiben und mich dort selbständig machen“, sagt Heidsiek, der aus einer Gastronomen-Familien aus der Nähe von Minden stammt. Leider musste er feststellen, dass ein deutscher Koch in Italien keine italienische Küche anbieten kann. „Ich hätte mich dort nur mit deutscher Küche selbständig machen können, aber das wollte ich nicht“, erinnert er sich. Zurück in Deutschland ging er zunächst nach Heidelberg, wo er an der Hotelfachschule eine Zusatzausbildung zum Küchenmeister machte.

Die erste Begegnung mit der Villa Marie 1993 war Liebe auf den ersten Blick, der Einstieg eine „rein emotionale Entscheidung“. „Heute bewundere ich manchmal meinen Mut von damals“, so Heidsiek. Denn das Leben mit der Villa war bisher immer wieder von Schwierigkeiten gezeichnet. Die dramatischste Phase war 2002, als das Jahrhunderthochwasser die „alte Dame“ – wie er das Haus liebevoll nennt – in die Knie zwang. Ein Teil des Personals musste entlassen werden, der Rest arbeitete mit Verzicht auf das volle Gehalt am Wiederaufbau mit. Ein halbes Jahr später erstrahlte die Villa in neuem Glanz. Trotz oder vielleicht gerade wegen solcher Rückschläge fühlt sich der Ostwestfale mit der Villa Marie sehr eng verbunden.

Villa Marie
Fährgässchen 1
01309 Dresden
www.villa-marie.com

© Marlies Moser