Donnerstag, 29. Juli 2010

„Kunst ist leben, leben ist Kunst!“


Wenn Manish Pathak die Bühne betritt, verwandelt sich der Inder innerhalb von Sekunden in Nataraj höchstpersönlich, dem König des Tanzes. Zu moderner indischer Musik durchlebt er Liebe, Hass, Angst, Freude und Trauer mit einer solchen Intensität, dass die Gefühle auf die Zuschauer überspringen. „New Indian Dance“ nennt sich diese Stilrichtung, die Manish, der sich auch der abstrakten Malerei verschrieben hat, in Berlin praktiziert.

„Meine Kunst ist nicht das Malen und Tanzen, meine Kunst ist leben“, sagt Manish. Wie wird man selbst zu einem Kunstwerk? „Ganz einfach: durch die Hilfe meiner beiden Gurus – Gott und meiner Großmutter“, erklärt Manish. „Und natürlich mit der Unterstützung von Ganesha“, betont er lächelnd und deutet dabei auf die kleine Kupferstatue mit dem elefantenköpfigen Gott im Raum.

Aufgewachsen ist Manish zunächst bei besagter Großmutter in Patna, der Hauptstadt des Bundesstaates Bihar, im Nordosten Indiens. Warum seine Eltern ihn zurück gelassen hatten, als sie nach Kalkutta zogen? „Ich weiß es nicht. Meine Mutter war Hausfrau, es gab also keinen Grund“, sagt er. „Aber ich bin ihr sehr dankbar für diese Entscheidung.“

Jenseits der Konventionen

Denn die ersten fünf Jahre seines Lebens verbrachte er unter der Obhut einer außergewöhnlichen Frau. Seine „Maa“, wie er die Großmutter liebevoll nannte, war eine liberal denkende, gläubige Brahmanin, die sich um Konventionen scherte.

„Maa fuhr mit dem Fahrrad, was sich für eine Frau ihres Ranges damals überhaupt nicht ziemte.“ Außerdem liebte sie es, den heiligen Fluss Ganges zu durchschwimmen - auch das eine eher überspannte Tätigkeit für eine Frau. Nach einer Begegnung mit der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori gründete die siebenfache Mutter kurzerhand eine Montessori-Schule im eigenen Haus.

Vor ihrer Ehe war sie Künstlerin und zusammen mit ihrer Schwester Schülerin von Rabindranath Tagore, dem bengalischen Multitalent und ersten asiatischen Nobelpreisträger. Als Gegner des klassischen Schulsystems hatte dieser für seine Kinder eine eigene Schule - Shanti-Niketan - gegründet, in der auch heute noch intuitiv und durch Vorbilder gelernt wird. Die besondere Begabung von Manishs Großmutter galt dem spirituellen Gesang.

„Die Schwester war weitaus talentierter als Maa“, erzählt Manish. Sie konnte nicht nur sehr gut singen, sondern auch tanzen und malen. Als sie später verheiratet war und Kinder hatte, stellte ihr Ehemann sie eines Tages vor eine folgenschwere Entscheidung: Familie oder Kunst. „Sie entschied sich sofort für die Kunst und verlies die Familie“, so Manish. Welch ein Skandal! Aber das ist eine andere Geschichte.

Eine idyllische Kindheit

„Maa war nicht so kunstbesessen“. Nach ihrer Heirat sang sie nur noch in der Familie und vererbte ihre künstlerischen Gene einiger ihrer Kindern – sowie Manish. „Musik war für mich von Anfang an wie die Luft zum Atmen“, erklärt er.

Er liebte die Zeit auf dem großen Anwesen seiner Großeltern. „Es gab einen wunderschönen Garten mit typisch indischen Blumen, aber auch eine Guava-Plantage, in der ich nach Lust und Laune mit meinen Freunden spielte“, erinnert er sich.

Nach fünf Jahren nahm dieses idyllische Leben ein abruptes Ende. Manishs Eltern holten ihren Sohn in die Hauptstadt Westbengalens – „für mich war das wie eine Verbannung aus dem Paradies“, beschreibt er die erste große Veränderung in seinem Leben.

In den darauf folgenden zwei Jahren kränkelte er immer wieder. „So musste Maa regelmäßig kommen und mich für eine Weile nach Patna holen“. Mit der Zeit gewöhnte er sich jedoch an das Leben in Kalkutta, seine Familie und Freunde, denen er immer gerne vortanzte. „Malen und Tanzen gehörten zu meinem Alltag“. Zum Ärger seines Vaters, einem Lehrer, schmückte er auch die Schulbücher und –hefte mit seinen Zeichnungen aus.

Dem Vater zuliebe

Sein Vater war es auch, der unbedingt wollte, dass der Sohn an der „University of Calcutta“ Wirtschaftswissenschaften studiert. Manish tat ihm diesen Gefallen, schrieb sich jedoch gleich nach dem Examen in ein Institut für Inneneinrichtung ein.

1995 versuchte er dann sein Glück im Ausland. „Mir fehlte das starke Gefühl von Liebe, das ich in meiner frühen Kindheit in Patna hatte“. Und so machte er sich zunächst in Singapur auf die Suche. Da er dort keine Arbeitserlaubnis bekommen konnte, war diese Reise von kurzer Dauer. Drei Monate später musste er wieder nach Indien zurück.

Dort warteten „die schlimmsten Jahre meines Lebens auf mich“, erinnert er sich. „Ich fühlte mich in Kalkutta so richtig niedergeschlagen. Jeder Tag war eine Qual für mich, und ich hatte das Gefühl, dass dieser Zustand nie enden würde“. Er fuhr nach Delhi und Bangalore, um Arbeit zu suchen, „aber irgendwie war mir klar, dass ich Indien verlassen musste.“

Nur wohin? Nach Australien, Russland oder Italien? „Meine Freunde machten sich schon lustig über mich ‚Du schaffst nie den Absprung’, meinten sie“, erinnert sich Manish.

Ein neues Leben

1998 bewarb er sich schließlich für eine Aufenthaltsgenehmigung in Kanada und „drei Jahre später war ich glücklicher Besitzer eines kanadischen Visums“. Für ihn war das der Beginn eines neuen Lebens.

In Kanada lebte er zunächst in Vancouver, dann in Toronto. Sein Geld verdiente er in einer großen Buchhandlung. „Eines Tages sah Linda, eine Kollegin und Freundin, meine Bilder und meinte: ‚Manish was machst Du hier? Du bist Künstler und kein Buchhändler, Du musst malen!“ Dies konnte er sich damals überhaupt nicht vorstellen. „Ich hatte nie daran gedacht, Künstler zu werden“.

Doch die Worte seiner Freundin ließen ihn nicht in Ruhe und so widmete er sich immer mehr der Malerei. Vielleicht lag es auch daran, dass sich er in dieser Zeit oft sehr einsam fühlte. „Kanada gefiel mir sehr gut, aber es war nicht mein Zuhause. Mir fehlte immer noch dieses vollkommene Gefühl der Liebe, die Geborgenheit - oder Schutzraum“, betont er. Diesen fand er mit seinen Bildern. Über 200 Werke schuf er innerhalb weniger Jahre.

Jedes Bild ist der Ausdruck seines momentanen Seelenzustandes. Sie entstehen alle nach demselben Ritual. „Wie ein Hindupriester lege ich das Material vor mir auf den Boden“, erklärt er. Während Hindupriester die Gaben ins Feuer werfen, bringt Manish sie „mal ganz ruhig, mal schreiend oder weinend“ auf Leinwand, Holz oder Papier. „Bis ein Bild fertig ist, kann es Stunden, Tage, aber auch Monate dauern - am Ende bin erschöpft und leer“, sagt Manish.

Indien nur zu Besuch

Es folgten Ausstellungen in Toronto und New York. Nach dem Tsunami 2004 organisierte er spontan eine Ausstellung und spendete den Erlös der verkauften Bilder. „Wenn in Indien etwas Schlimmes geschieht, dann geht es mir einfach schlecht“, erklärt er.

Ein Leben auf dem Subkontinent kann er sich jedoch nicht mehr vorstellen. „Kaum bin ich in Kalkutta, werde ich bereits nach wenigen Tagen nervös“, beschreibt er seine Stimmung. Die Stadt beschreibt er als „zu laut und zu intensiv, ich halte es da nie lange aus.“

Dennoch ist er durch und durch Inder. „Ich träume häufig auf Hindi, kann nur indisch kochen und empfinde die indische Musik als die intensivste Musik der Welt“, sagt er. Natürlich liebt er auch indische Literatur, vor allem die Romane von Salman Rushdie. „Seine Sprache ist so pulsierend, dynamisch und bunt - ganz wie das Leben auf den Straßen Indiens“.

2005 besuchte er zum ersten Mal wieder Kalkutta und begegnete dabei seiner großen Liebe, die aus Potsdam stammte. Und so begann ein neues Kapitel in Manishs Leben, „obwohl diese Liebe nicht erwidert wurde“. Er fing an, Deutsch zu lernen und landete zwei Jahre später in der Hauptstadt Brandenburgs. Da seine Deutschkenntnisse noch nicht perfekt waren, führte ihn sein Weg sofort zur Tanzschule „fabrik“. „Ich habe einfach angeklopft, vorgetanzt – und man fand es gut.“

Zu Hause angekommen

Inzwischen lebt er in Berlin, und fühlt sich endlich zu Hause angekommen. „Berlin war die 12. Station auf meiner Suche nach Liebe“, betont er. Kaum war er am Bahnhof Zoo angekommen, „überkam mich plötzlich wieder dieses intensive, schöne Gefühl, das mir seit meiner Kindheit verloren gegangen war“. Die Berliner verstanden seine Fragen auf Anhieb und halfen ihm, die gewünschte Adresse zu finden. „Vom ersten Augenblick an fand ich mich in der Stadt zurecht“.

Der Tanz als aktive Kunstform passt somit genau zu seiner derzeitigen Lebensphase. „Einsamkeit kann ich am besten im Malen ausdrücken und Liebe im Tanzen.“ Über die Deutschen von Anfang an nur positiv überrascht. „Meine Freunde hatten mich gewarnt, aber ich treffe immer nur auf sehr nette und offene Menschen“, betont er.

Ihm gefällt vor allem die direkte Art, mit der ihm die Berliner begegnen. Auch seine Erlebnisse auf der Ausländerbehörde erinnern eher an nette Gespräche mit einer guten Bekannten als an einen Behördentermin.

„Meine Sachbearbeiterin Frau Ditting zeigt großes Interesse an meinem Leben hier. Sie will immer wissen, wie es mit dem Tanzen läuft, lobt meine Fortschritte in Deutsch und wünscht mir beim Abschied jedes Mal viel Glück“, sagt er mit einem Lächeln in den Augen. Solche Begegnungen sind ihm sehr wichtig, denn „ich brauche Menschen um mich herum“.

Licht und Schatten

Aber wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten – und so stößt Manish nicht nur auf Begeisterung. „Es gibt natürlich Menschen, die mir ganz bewusst aus dem Weg gehen – vielleicht beängstigt sie meine intensive Ausstrahlung?“. Diese extremen Reaktionen auf ihn kann man am besten bei seiner Interpretation des Beedi-Lieds aus einem Bollywoodfilm erleben.

Die Mischung aus (angedeutetem) Striptease und klassischem indischen Tanz hat es seinen Fans angetan. „Nach jeder Aufführung wünschen sie sich diesen Tanz als Zugabe“, so Manish. Viele indische Zuschauer – vor allem ältere Menschen – reagieren dagegen in der Regel entsetzt.

Obwohl es an Anfragen nicht mangelt, tritt Manish relativ selten auf. „Wenn ich tanze, dann vergesse ich das Publikum und alles andere um mich herum“, erklärt er. „Ich sehe nur noch helles Licht und verwandle mich in den Tanz.“ Nach einem solch intensiven Erlebnis fühle er sich nicht nur körperlich, „sondern auch seelisch vollkommen erschöpft“.

Da kostet ihn das Unterrichten deutlich weniger Energie. „Aber auch das ist Kunst“, betont der 40-Jährige. „Wenn meine Schüler müde und kaputt von der Arbeit im Tanzstudio erscheinen und zwei Stunden später mit leuchtenden Augen nach Hause gehen, fühle ich mich ganz erfüllt“.

Kontakt:
Manish Pathak
www.manish1313.blogspot.com

© Marlies Moser

1 Kommentar:

  1. Liebe Marlies, dies ist ein sehr schöner Text. Er bringt einem diesen Mann nahe und gibt mir das Gefühl, doch irgendwie in einer tollen Stadt zu wohnen.

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