Mittwoch, 28. Juli 2010

Mystic Travel – Eine Reise nach Indien und zu mir selbst


Es ist neun Uhr morgens. Ich liege gerade im schönsten Raum unseres „guest house“ und komme in den Genuss einer Reikibehandlung. Aus den Händen von Simone, meiner Betreuerin, die glücklicherweise auch Reikimeisterin ist, strömt eine angenehme Kühle auf meine Augen. Draußen sitzen einige Teilnehmer gemütlich unter Kokospalmen am großen Holztisch beim Frühstück. Oben auf der Dachterrasse folgt ein anderer Teil der Gruppe den Anweisungen von Prasad, unserem Yogalehrer, bei dem jede Übung so einfach aussieht. Wir sind in Kerala, dem zweitkleinsten Bundesstaat Indiens, im äußersten Südwesten des Subkontinents. Direkt vor uns, unterhalb der rotbraunen Steilküste, liegt ein breiter Sandstrand und das leuchtend blaue Arabische Meer.

Wir sind eine bunt zusammen gewürfelte Gruppe und kommen aus ganz Europa. Die Motive für die Indienreise sind so unterschiedlich wie die Teilnehmer selbst. Einige der 30- bis 66-Jährigen wollen einen reinen Wellnessurlaub genießen mit Yoga, Meditationen und den täglichen ayurvedischen Behandlungen. Andere wiederum möchten einige Ashrams besuchen, die paradiesischen Backwaters erleben oder zum Periyar-Nationalpark fahren und dort wilde Elefanten, Affen und – mit viel Glück – Tiger beobachten. Für mich wird eine viertägige Reise in das 800 Kilometer entfernte Bangalore zum Besuch einer Palmblattbibliothek der Höhepunkt meines Indien-Aufenthalts sein.

Der zentrale Ort unserer Reise ist jedoch Varkala, ein hinduistischer Pilgerort, knapp 50 Kilometer von der Hauptstadt Trivandrum entfernt. Varkala ist vor etwa 15 Jahren von Individualtouristen entdeckt worden. Wir sind in drei nebeneinander liegenden Häusern untergebracht, jedes ein kleines Juwel für sich. Ich fühle mich hier sofort wohl. Wenn ich mich mit den anderen Teilnehmern austauschen will, gehe ich zum Haupthaus, wo immer jemand in der Hängematte liegt, Obst isst oder auf der Bank vor dem Haus sitzt und plaudert. Zum Nordkliff, wo sich einige Ressort, Läden und Open-Air Restaurants wie die Perlen einer Kette aneinander reihen, sind es zu Fuß nur gut 15 Minuten.

Entspannen mit Ayurveda und Yoga

In den ersten Tagen staht vor allem Ayurveda – das Wissen vom langen Leben – im Vordergrund. Doktor Manoj, unser Arzt, nimmt sich eine halbe Stunde Zeit für mich, schaut mir tief in die Augen, misst den Puls und stellt Fragen über meine Gesundheit und mein Leben zu Hause. Denn im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen die Ursachen und nicht die Symptome einer Beschwerde. Von seinen regelmäßigen Deutschland-Aufenthalten weiß er nur zu gut, dass die Krankheiten der Touristen oft psychosomatisch bedingt sind. Am zweiten Tag beginnen die täglichen Kopf-, Gesichts- und Ganzkörpermassagen, die mir zusätzlichen Anwendungen wie Stirnguss, Fußmassage oder Gesichtspackungen über zwei Stunden dauern können. Ich bin begeistert. Das Kneten, Walken und Drücken tut so gut, beruhigt. Nach der Massage fühle ich mich völlig entspannt und wie neu geboren. Meine Stimmung verbessert sich von der ersten Behandlung an.

Der Tagesrhythmus verläuft in Varkala ganz anders als zu Hause. Um 6.30 Uhr, zum Sonnenaufgang, beginne ich mit Yoga. Danach gibt es Frühstück und das Tagesprogramm wird vorgestellt: mal ist es ein kleiner Ausflug, mal „nur“ ein paar Meditationen oder Reiki. Für mich fällt heute das Frühstück aus, weil ich gleich eine Anwendung habe. Nach der Massage esse ich etwas und lasse für den Rest des Tages einfach nur die Seele baumeln. Ich relaxe auf der Terrasse, im Garten und am Strand, lausche dem Krächzen der Vögel und bewundere den eleganten Flugstil der Seeadler. Mein derzeit schwieriges Leben in Deutschland ist so weit weg, negative Gedanken interessieren mich nicht. Ich konzentriere mich nur auf den Augenblick und genieße diese neue Leichtigkeit. Abends habe ich das Gefühl, dass ich einen erlebnisreichen Tag hinter mir habe, obwohl ich gar nicht viel getan hatte. Das Entdecken und Genießen der Langsamkeit macht mich rundum zufrieden.

Auch das Essen ist ein neues Erlebnis. Irgendwie schmeckt hier alles viel intensiver als in Deutschland. Vor allem die heimischen Gewürze – Kardamon, Kreuzkümmel, Gelbwurz und Chili – werden von meinen Geschmacksknospen deutlicher wahrgenommen. Das Nationalgericht im Süden Indiens heißt Thali. Es ist ein Sortiment verschiedener Gemüsegerichte mit Pasten und Saucen, das ganz traditionell auf einem Bananenblatt im Halbkreis um eine Portion Reis angerichtet wird. Ich lerne mit den Fingern zu essen und stelle fest, dass dies gar nicht so schwer ist – und vor allem, dass es viel sinnlicher ist, das Essen ohne Metallbesteck mit dem Mund aufzunehmen.

Faszination Backwaters

Das idyllische Leben in Varkala wird ab und zu durch ein- oder mehrtägige Ausflüge unterbrochen. Am Ende der ersten Woche machen wir uns zu den berühmten Backwaters auf, einem 1500 Kilometer langen, verzweigten Netz aus Lagunen, Seen und Reisfeldern. Neben den für Kerala typischen Kokospalmen säumen auch Bananen und Gewürzgärten die Wasserstraßen. Von unserem Hausboot aus beobachte ich Kinder in Schuluniform auf dem Heimweg, Frauen, die ihre Wäsche direkt am Kanal waschen und Bauern, die in kleinen Kanus an uns vorbei fahren. Alles ist so exotisch, aber gleichzeitig erscheinen mir diese Bilder vertraut. Ein alter Mann taucht am Ufer auf, bleibt stehen und schaut mir ruhig und freundlich in die Augen. Sein melancholischer Blick erzählt in wenigen Minuten alles: Licht und Schatten, Freude und Trauer, Leben und Tod. Ich bekomme eine Gänsehaut, kann mich seinem Blick jedoch nicht entziehen. Schließlich winkt er mir kurz zu und geht weiter.

Audienz bei Amma

Bei den Backwaters liegt auch der Ashram von Amma, eine der wenigen Frauen unter den Gurus in Indien. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, so viele Menschen wie möglich zu umarmen. Da sie gerade in ihrem Ashram weilt, fahren wir für einen Tag hin. Wir werden in die Darshan-Halle geführt, wo sie auf einer Bühne sitzt. Rechts und links vor ihre stehen lange Menschenschlangen. Amma umarmt einen nach dem anderen, sagt jedem etwas ins Ohr und strahlt ihre Besucher an. Ich sitze eine ganze Weile in der Halle und beobachte die kurzen Begegnungen, die sie mit den Besuchern hat. Endlich darf ich mich in die Reihe der Frauen eingliedern. Wenige Meter vor ihr fühle ich mich plötzlich sehr ergriffen und kämpfe mit den Tränen. Dieses Gefühl verschwindet wieder, je näher ich an sie heran komme. Ich werde gefragt, welche Sprache ich spreche, bekomme Anweisungen, wie ich mich hinknien soll, und bin nur noch einen Schritt von Amma entfernt.

Meine Ergriffenheit verwandelt sich in ein starkes Gefühl der Fröhlichkeit, und plötzlich werde ich an Ammas Brust gedrückt. Sie flüstert mir etwas ins Ohr, das ich nicht verstehe, und drückt mich noch einmal ganz kurz. Anschließend sagt mir eine Jüngerin, Amma lade mich dazu ein, einige Minuten ganz in ihrer Nähe zu sitzen. So kann ich noch einmal kurz diese besondere Atmosphäre einatmen und mir die vielen glücklichen Gesichter um Amma herum einprägen.

Palmblattbibliothek: Blick in die Zukunft

In der letzen Woche fahre ich mit sechs weiteren Teilnehmern nach Bangalore zur Palmblattbibliothek. Von diesem Besuch erhoffe ich mir wichtige Hinweise für meine nähere Zukunft, da ich mich seit längerem in einer Blockade befinde. Bereits auf der langen Zugfahrt weicht die bisher erlangte Ruhe einer Nervosität und großen Angst. Was mache ich, wenn ich erfahre, dass mein Leben weiterhin sehr schwierig sein wird? Wird überhaupt ein Palmblatt für mich da sein? Der Legende nach soll es insgesamt nur rund 1,3 Millionen Palmblätter mit Lebensläufen geben.

Am Bahnhof von Bangalore werden wir von Matthias und Rahima, unseren Betreuern für die Hightech-Metropole, abgeholt und ins Hotel gebracht. Die ersten vier von uns haben gleich einen Termin. Im Wartezimmer der Bibliothek angekommen, fühle ich mich wie vor einer mündlichen Prüfung. Ich vertreibe mir die Zeit mit dem Schreiben von Ansichtskarten und mache ein bisschen Small Talk mit den anderen, die ebenfalls nervös sind. Endlich bin ich an der Reihe.

Nadi Gruha, der Palmblattleser, gibt mir sofort das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Meine Angst ist weg. Er fragt ein paar persönliche Daten ab, verlässt den Raum und kommt bald darauf mit etwa 30 Zentimeter langen und fünf Zentimeter breiten Palmblättern zurück, die wie Holztäfelchen aussehen und an den Ecken mit einer Schnur zusammengebunden sind. Nadi Gruha zieht die Schnur raus, fragt nach weiteren Daten und findet sehr schnell mein persönliches Palmblatt. Er kommt sofort auf den Grund meines Besuches zu sprechen und erzählt mir, was sich in den nächsten Jahren verändern wird und wie ich mein Schicksal positiv mitgestalten kann. Obwohl mein Englisch ganz gut ist, bin ich froh, dass ich Matthias als Dolmetscher neben mir sitzen habe. Nadi Gruha erklärt mir, warum mein Leben so ist, wie es ist, und berichtet mir von den Stärken und Schwächen in meinen früheren Leben. Er schildert mir Situationen meines bisherigen Lebens und erinnert mich an bestimmte Gefühle, die ich als Kind hatte. Ich verliere jegliches Zeitgefühl. Zum Schluss darf ich noch fragen stellen. Die Antworten dazu sind beruhigend.

Bald geht es wieder zurück nach Varkala, das nach dem lauten und staubigen Bangalore eine richtige Oase ist. Ich habe noch einen Tag Zeit, diesen besonderen Fleck Erde zu genießen, den ich ohne Mystic Travel wohl nie entdeckt hätte. Das Team unter der Leitung von Tim H. Pfordte hat mir das Leben hier so angenehm wie nur möglich gemacht, was für einen Indien-Neuling wie mich sehr wichtig war. Von den vier fürsorglichen Betreuern habe ich gelernt, wie ich mich in der Stadt, beim Einkaufen oder im Gespräch mit Rikscha-Fahrern richtig verhalte. Ihre persönlichen Geschichten, die sie mit Indien verbinden, haben mich berührt. In diesen drei Wochen ist mir klar geworden, dass auch ich noch einige Male in den Subkontinent reisen werde, um weiter zu mir selbst zu finden.

© Marlies Moser

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